Neurodivergenz & Erschöpfung bei Kindern und Jugendlichen: Warum so viele junge Menschen heute nicht mehr können
- Anja Joensson
- 5. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Juni
Wie ein überreiztes Nervensystem zu Rückzug, Müdigkeit und innerer Überforderung führt und was Eltern, Lehrer und Betroffene tun können

Seit Jahren kommen Eltern mit ihren Kindern in unsere Praxis, bei denen Erschöpfung, Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten auftreten.
Was uns dabei auffiel: Viele dieser Kinder und Jugendlichen wirkten, als hätten sie einen Burnout, doch irgendetwas war anders. Die Symptome passten nicht ins klassische Bild.
Wir fragten uns immer wieder:
Ist es die schulische Überforderung?
Der Leistungsdruck im Elternhaus?
Die Ernährung, die kaum noch das enthält, was ein wachsender Körper wirklich braucht?
Ist es die ständige Dauerpräsenz in Social Media, die über ihre Smartphones Tag und Nacht auf Empfang schaltet?
Ist es vielleicht doch 5G, Bewegungsmangel oder eine stille Reizüberflutung durch Licht, Lärm und Informationsflut?

All diese Dinge spielten sicher eine Rolle – und doch fehlte das verbindende Element.
So viele Kinder, so viele Symptome – aber wie passte alles zusammen?
Vielleicht, dachten wir irgendwann, sehen wir gerade etwas viel Größeres. Vielleicht erleben wir eine Form von Evolution – live.
Kinder, deren Nervensysteme anders ticken. Sensibler. Schneller. Offener.
Nicht krank, sondern neu. Und genau deshalb überfordert von einer Welt, die sich noch nicht angepasst hat.
Jakob, 13 Jahre alt Seine Mutter beschreibt ihn als "fröhlich, aber ständig müde". In der Schule wirkt er still, verträumt. Zuhause explodiert er bei jeder Kleinigkeit. Die Blutwerte waren alle unauffällig und der Diagnosevorschlag vom Arzt war: Depression. Doch in Gesprächen wird deutlich: Jakob nimmt jede Stimmung im Raum wahr, jeden Ton, jede Ungerechtigkeit. Und er kann sie nicht abschalten.

Was bedeutet Neurodivergenz?
Neurodivergenz beschreibt eine natürliche neurologische Variation. Das Gehirn verarbeitet Informationen, Reize, Gedanken und Gefühle auf besondere Weise. Dazu gehören u. a. Autismus, ADHS, Hochsensibilität oder sensorische Integrationsstörungen. Viele dieser Merkmale bleiben lange unerkannt – vor allem bei stillen, angepassten Kindern.
Mira, 13 Jahre alt Nach außen hin ein echtes Vorzeigemädchen: fleißig, hilfsbereit, höflich, überall beliebt. Doch hinter diesem Lächeln steckt ständiger innerer Druck. Mira beobachtet ständig ihr Umfeld, scannt die Erwartungen anderer – und passt sich an, oft bis zur völligen Erschöpfung. Sie vermeidet Konflikte, sagt immer „Ja“, auch wenn sie innerlich „Nein“ meint. Typisch für sie sind Gedanken wie: "Ich will nicht enttäuschen" oder "Ich muss perfekt sein, sonst mag mich keiner." Nachts kann sie kaum schlafen, hat Bauchschmerzen und weint heimlich. Mira zeigt ein klassisches Beispiel für „Masking“ bei Autismus im weiblichen Spektrum: ein ständiges Sich-Verstellen, das nach außen funktioniert – aber innerlich auszehrt.
Besonders bei Mädchen tritt oft ein sogenannter "weiblicher Phänotyp" auf: weniger auffällig, mehr Anpassung, stärkeres soziales Masking. Sie erfüllen Erwartungen, funktionieren perfekt – und brechen innerlich leise zusammen.
Mira ist ein typisches Beispiel dafür. Ihre Überangepasstheit wurde gelobt – bis sie nicht mehr konnte.
Das wirkt sich langfristig auch auf die körperliche Situation aus. Wir diagnostizieren hier häufig erste Anzeichen von Morbus Hashimoto – einer Autoimmunerkrankung, die die Schilddrüse betrifft.
Die Ursache ist meistens Überforderung.
Deshalb brauchen neurodivergente Kinder und Jugendliche keine Korrektur – sie brauchen Schutzräume, Verständnis und ein Umfeld, das sie nicht ständig überfordert.
Erik, 9 Jahre alt Bereits in der ersten Klasse hielt er sich im Unterricht regelmäßig die Ohren zu. "Es ist einfach zu laut in meinem Kopf", sagte er. Niemand verstand ihn – doch für Erik war das Klassenzimmer eine sensorische Überforderung: schrilles Klingeln, viele Stimmen, ständiger Wechsel von Eindrücken. Seine Körpersprache sprach Bände – Rückzug, Weinen, Migräne, Bauchschmerzen, Angst vor der Schule. Schließlich entwickelte er eine Schulphobie. In Wahrheit war sein Nervensystem hochsensibel und konnte die alltäglichen Reize nicht mehr filtern. Erik zeigt ein deutliches Beispiel für sensorisch bedingte Reizverarbeitungsschwierigkeiten – häufig zu finden bei autistischen Kindern oder solchen mit sensorischer Integrationsstörung.

Was du tun kannst, wenn du dich darin erkennst
Wenn du dich hier wiederfindest, heißt das nicht, dass etwas mit dir nicht stimmt. Es heißt nur: Dein Nervensystem reagiert anders – und das darf es.
Ella, 15 Jahre alt Sie geht kaum noch zur Schule, weil sie "nicht mehr kann". Die Lehrerin vermutet Schulverweigerung. Doch Ella beschreibt, wie sich Geräusche wie Messer in ihren Kopf bohren, wie sie sich nach jeder Pause stundenlang nicht mehr konzentrieren kann. Sie weint, wenn sie nicht "funktioniert" und Ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann, fragt sich, was mit ihr nicht stimmt und warum sie nicht so ist, wie ihre anderen Mitschülerinnen.
Niclas, 18 Jahre alt Ein ruhiger, kluger Junge, der kurz vor dem Abitur steht und plötzlich mit Panikattacken kommt. Sein Herz rast, sein Kreislauf bricht ein – angeblich ohne Auslöser. Angst vor dem ABI? Sicherlich auch, aber nicht nur. Er erzählt, das er Angst vor der Zukunft hat und gleichzeitig immer zu viel spürt, vor allem wenn es um Ungerechtigkeit geht, jemand lügt oder traurig ist. Er merkt, dass ihn das komplett überfordert.
Hier ein paar Impulse:
Führe ein Reiztagebuch: Wann wird es zu viel? Was hilft dir?
Suche dir Menschen, die dich verstehen, ohne zu bewerten.
Maskiere dich weniger – du darfst du selbst sein.
Erlaube dir Rückzug, Pausen, Schutz.
Suche nach Therapeuten oder Therapeutinnen, die sich mit Neurodivergenz auskennen – nicht nur mit Diagnosen.
Hilfe für Eltern – wie Sie Ihr Kind besser verstehen können
Vielleicht lesen Sie diesen Artikel nicht für sich, sondern für Ihr Kind. Vielleicht sind Sie ratlos, erschöpft oder fühlen sich verantwortlich.
Fragen Sie sich:
Wirkt mein Kind dauerhaft erschöpft?
Gibt es emotionale Ausbrüche ohne klaren Auslöser?
Meidet es Licht, Geräusche oder soziale Situationen?
Funktioniert es nach außen – und leidet innerlich?
Erste Schritte:
Glauben Sie Ihrem Kind.
Verzichten Sie auf Bewertungen.
Suchen Sie echte Fachpersonen – nicht nur Etiketten.
Achten Sie auf Situationen, in denen Ihr Kind aufblüht – und auf die, die es erschöpfen.

Dein persönlicher Selbsttest – erste Hinweise auf ein neurodivergentes Nervensystem
Du möchtest besser verstehen, ob dein Nervensystem vielleicht anders arbeitet?
Ob die Erschöpfung, die du erlebst, mit deiner Reizverarbeitung zusammenhängt?
Dieser kleine, unverbindliche Test hilft dir, erste Hinweise zu erkennen – ganz ohne Wertung, denn dies müssen spezialisierte Therapeuten machen.
Kreuze an, was auf dich oder dein Kind zutrifft:
☐ Ich bin nach einem ganz normalen Schultag so erschöpft, dass ich niemanden mehr sehen will.
☐ Ich bin lieber alleine, als mit anderen Menschen. ☐ Ich hasse bestimmte Geräusche (z. B. Kauen, Lachen, Kratzen) und kann sie kaum ertragen.
☐ Ich reagiere auf grelles Licht, intensive Gerüche oder viele Menschen sehr schnell genervt oder müde.
☐ Ich habe oft das Gefühl, anders zu sein – aber kann nicht erklären, warum.
☐ Ich brauche mehr Pausen als andere, komme aber selten dazu.
☐ Ich spüre die Stimmung von Menschen oder Räumen sofort – und trage sie manchmal tagelang mit mir herum.
☐ Ich fühle mich in Gruppen schnell überfordert, obwohl ich mich bemühe, "normal" zu sein.
☐ Ich funktioniere nach außen gut – aber innerlich bin ich erschöpft, leer oder überfordert.
☐ Ich versuche oft, mich anzupassen, obwohl es mich innerlich Kraft kostet.
☐ Ich weiß oft nicht, was mit mir los ist – ich will einfach nur Ruhe.
Wenn du (oder dein Kind) mehr als vier Aussagen angekreuzt hast, kann es sein, dass ein besonders sensibles oder neurodivergentes Nervensystem beteiligt ist.
➡ Sprich nun mit Menschen, die sich damit auskennen. Und erinnere dich: Du bist nicht allein – und du bist nicht falsch.
Manchmal beginnt Heilung mit dem ersten Satz: "Ich brauche Hilfe."
Häufig gestellte Fragen zur Neurodivergenz bei Kindern und Jugendlichen (FAQ) Wie äußert sich Masking bei Jugendlichen? Masking bedeutet, dass Kinder und Jugendliche versuchen, ihre inneren Schwierigkeiten zu verstecken, um nicht aufzufallen. Sie beobachten andere, passen sich an, unterdrücken ihre Bedürfnisse – und wirken nach außen „unauffällig“. Besonders bei Mädchen ist dieses soziale Tarnen weit verbreitet. Es führt oft zu stiller Erschöpfung, innerer Leere oder psychosomatischen Beschwerden.
Warum wirken manche neurodivergente Kinder zu Hause so anders als in der Schule? Viele Kinder halten in der Schule den ganzen Tag durch – mit enormer innerer Anstrengung. Zuhause fällt dann alle Anspannung ab. Dort kommt es zu Wutausbrüchen, Rückzug oder Weinen. Das ist kein Zeichen von Verwöhntheit, sondern ein Ausdruck davon, dass sie im vertrauten Raum endlich loslassen können.
Woran erkenne ich, ob mein Kind autistische Züge zeigt? Typische Hinweise können sein: starker Rückzug nach sozialen Kontakten, intensives Spezialinteresse, sensorische Empfindlichkeit (z. B. auf Geräusche oder Berührungen), Schwierigkeiten mit Blickkontakt oder sozialen Regeln sowie das Bedürfnis nach festen Routinen. Bei Mädchen wird Autismus oft übersehen, weil sie sich sozial besser anpassen („maskieren“) – trotzdem spüren sie oft eine tiefe Erschöpfung.
Was unterscheidet Autismus von ADHS? Beide können reizoffen, unruhig oder sozial auffällig wirken. Bei ADHS steht jedoch oft die Impulsivität, Konzentrationsprobleme und motorische Unruhe im Vordergrund. Bei Autismus geht es stärker um Wahrnehmungsbesonderheiten, soziale Kommunikation und das Bedürfnis nach Struktur. Viele Kinder haben Mischformen oder überlappende Merkmale.
Was sind Tics – und wie unterscheiden sie sich von Autismus oder ADHS? Tics sind unwillkürliche Bewegungen oder Laute, die plötzlich auftreten (z. B. Augenblinzeln, Räuspern). Sie gehören zu einem eigenen neurologischen Spektrum (z. B. Tourette). Im Unterschied zu ADHS oder Autismus sind sie meist nicht kognitiv oder sozial bedingt – können aber gemeinsam auftreten. Wichtig ist die Unterscheidung zur Selbstregulation bei Reizüberflutung, die bei Autismus häufig mit „Zappeln“ oder „Stimming“ verwechselt wird.
Was sind Anzeichen für ein neurodivergentes Kind? Sensibilität für Geräusche, soziale Überforderung, schnelle Erschöpfung und ein starkes inneres Erleben sind häufige Merkmale.
Kann ein Kind ein Burnout haben? Ja – insbesondere wenn es dauerhaft über seine Grenzen geht und seine Bedürfnisse ignoriert werden. Häufig steckt eine neurodivergente Reizverarbeitung dahinter.
Was kann ich als Elternteil tun, wenn mein Kind ständig erschöpft ist? Zuhören, was in der Schule und im sozialen Umfeld los ist, Überforderung unterbinden, Erwartungen senken, den Alltag anpassen, feste Medienzeiten für Social Media und TV einführen – und gegebenenfalls fachkundige Hilfe suchen, die das Thema Neurodivergenz ernst nimmt. Hilfreich ist es auch, regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten zu etablieren. Sie fördern soziale Verbindung, ermöglichen achtsames Beobachten und bieten die Chance, Vorbild für eine entspannte, nährende Ernährung zu sein – ohne ständiges Thematisieren oder Leistungsdruck am Esstisch.
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